Neuro-Mythos: Nutzen wir nur 10 % unseres Gehirns?
Verschiedene Umfragen belegen die Meinung vieler Leute, dass der Mensch nur 10 Prozent seiner Gehirnkapazität nutzt.
Auch in Filmen wie z.B. Lucy (2014) oder Ohne Limit (2011) und in Büchern bekannter Autoren wird dieser Mythos aufgegriffen.
Oft dient dieser 10-Prozent-Mythos dazu, im Sinne von positivem Denken an die verborgenen Kräfte zu appellieren, die in unserem Oberstübchen schlummern[1]S. Larivée, J. Baribeau, J.-F. Pflieger: Qui utilise 10 % de son cerveau ? (Who uses 10 % of his brain ?), Revue de psychoéducation, Bd. 37, Nr. 1, S. 117–142 (2008).. Neben anderen, verbreiteten Irrtümern über unser Gehirn ist dieser angebliche Fakt aber weit von der Realität entfernt.
Irrtum 10 %-Gehirn-Nutzung: Einfach erklärt
Viele glauben, dass wir Menschen nur 10 Prozent unseres Gehirns nutzen. In Filmen wie „Lucy“ mit Scarlett Johansson oder „Ohne Limit“ mit Bradley Cooper kommt dieser Mythos vor. Dort entfalten die Hauptpersonen übernatürliche Fähigkeiten: Höhere Intelligenz, Gedächtnis, Konzentrationsfähigkeit und sogar Telepathie.
Dies ist aber ein Mythos: Jeder Mensch nutzt sein komplettes Gehirn! Aber: Nicht immer ist das ganze Gehirn gleichzeitig aktiv. Beim Sprechen, Denken, Fühlen, Sehen oder Bewegen werden verschiedene Bereiche im Gehirn genutzt. Je mehr Dinge man gleichzeitig tut, desto aktiver ist das Gehirn.
Das kann man mit modernen wissenschaftlichen Untersuchungen sichtbar machen. Sogar im Schlaf sind mehr als 10 Prozent unseres Gehirns aktiv.
(K)eine wissenschaftliche Grundlage für den 10-Prozent-Mythos
Manchen Organen kann man geradezu bei ihrer Arbeit zusehen: Muskeln beim Kontrahieren oder der Lunge beim Atmen.
Gehirnaktivität jedoch ist für unsere Augen nicht direkt sichtbar. Bis zur Entwicklung fortschrittlicher, bildgebender Verfahren konnten Wissenschaftler nur indirekt mutmaßen, was in unserem Denkorgan vor sich geht.
Im 19. Jahrhundert erforschte der französische Physiologe Marie-Jean-Pierre Flourens die Funktion verschiedener Hirnregionen durch Experimente an Tieren. Indem er nach und nach Gehirnteile chirurgisch entfernte, konnte er anhand der resultierenden Defizite Rückschlüsse auf die Funktion der jeweiligen Gehirnregion ziehen[3]https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k63050400/f9.item.texteImage. Er beobachtete bei seinen Experimenten, vor allen mit Vögeln und Fröschen, dass diese auch nach Entfernung des überwiegenden Teils ihres Gehirns noch gewisse Grundfähigkeiten besaßen[4]https://www.nytimes.com/2014/08/03/opinion/sunday/three-myths-about-the-brain.html?_r=1.
War dies also ein Beleg dafür, dass große Teile des Gehirns dieser Tiere nicht gebraucht werden? Bedingt durch die wissenschaftlichen Entwicklungen unserer heutigen Zeit sind die Erkenntnise von Monsieur Flourens ins Wanken geraten.
Dank der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT)[5]https://www.bionity.com/de/lexikon/Funktionelle_Magnetresonanztomographie.html kann heutzutage Gehirnaktivität ohne chirurgische Eingriffe sichtbar gemacht werden. Welche Gehirnregion für einzelne Tätigkeiten oder Empfindungen jeweils beansprucht wird, kann man anhand des lokal erhöhten Sauerstoffverbrauchs ermittelt.
Eine weitere Methode, die Elektroenzephalographie (EEG), kann elektrische Ströme auf der Kopfhaut messen, die durch aktive Gehirnregionen verursacht werden. Dank derartiger Technologie weiß die moderne Neurowissenschaft, dass selbst beim Nichtstun eine deutliche Gehirnaktivität messbar ist[6]https://www.spektrum.de/magazin/im-kopfherrscht-niemals-ruhe/1030086.
Das Hirn schläft nie
Neurowissenschaftler konnten nachweisen, dass auch im Schlaf eine hohe neuronale Aktivität im Gehirn zu verzeichnen ist, die zum Beispiel mit Lernprozessen in Verbindung steht[7]https://www.rnd.de/wissen/schlaf-waehrend-wir-schlafen-ist-unser-gehirn-hochaktiv-TAQLTERW5REHRMJTNQ7N5VQWPI.html.
Durch all diese heute verfügbaren Untersuchungsmethoden wissen wir eine ganze Menge über unser Denkorgan. Der Mensch besitzt spezialisierte Hirnregionen, die je nach Tätigkeit (Sprechen, Denken, Bewegungen steuern usw.) zum Einsatz kommen. Je nach Komplexität sind mehr oder weniger Bereiche im Gehirn gleichzeitig aktiv.
Kein Gehirnareal ist überflüssig oder dauerhaft inaktiv. Einleuchtend ist auch ein evolutionäres Argument: Würden stets nur 10 % des Gehirns beansprucht, wären im Umkehrschluss 90 % dieses energiehungrigen Organs ungenutzt und damit aus evolutionärer Sicht unökonomisch.
Welche dramatischen Folgen bereits kleine Ausfälle einzelner Hirnregionen haben können, zeigt sich am Beispiel eines Schlaganfall[8]https://www.schlaganfall-hilfe.de/de/verstehen-vermeiden/was-ist-ein-schlaganfall. Bei diesem oft lebensbedrohlichen Zustand kann schon die Blockierung eines kleinen Blutgefäßes dazu führen, dass einzelne Gehirnfunktionen wie Sprache oder Motorik ausfallen und lebenslange Schäden nach sich ziehen.
Woher kommt der Mythos und was befeuert ihn?
Der Bereich der Gehirnforschung ist verheißungsvoll und stößt in unserer Gesellschaft auf großes Interesse.
Wir erhoffen uns durch neu gewonnene Erkenntnisse über unser Denkorgan Verbesserungen im Alltag: Gedächtnisleistung, Demenzvorbeugung, eine Verringerung von Stress oder einfach nur Verständnis dafür, was in den Köpfen anderer Leute vorgeht. Umso leichter kann es passieren, dass wissenschaftliche Fakten durch Wunschdenken im Handumdrehen verfälscht werden.
Im Fall des 10-Prozent-Mythos ist es naheliegend, dass verschiedene Erkenntnisse falsch umgedeutet oder verwechselt wurden. Die beschriebenen Forschungen von Marie-Jean-Pierre Flourens könnten den Grundstein für das Missverständnis gelegt haben, auch wenn dieser keine prozentualen Aussagen zur Gehirnnutzung gemacht hat. Zusätzlich sind seine Forschungsergebnisse an den untersuchten Tiergehirnen nicht auf den Menschen übertragbar. Zudem waren seine Versuchstiere nach der teilweisen Gehirnamputation auch sicherlich nicht zu komplexeren Handlungen als zur Nahrungsaufnahme fähig.
Die Angabe von nur 10 % genutzter Gehirnaktivität könnte erstmals als bloße Schätzung von Nicht-Wissenschaftlern in die Welt gesetzt worden sein. Anschließend wurde diese unbelegte Angabe offenbar vielfach nachgeplappert.
Der Kommunikationstrainer Dale Carnegie behauptete den 10-Prozent-Mythos 1937 in seinem Bestseller Wie man Freunde gewinnt: Die Kunst, beliebt und einflussreich zu werden, genau wie der weltbekannte Mentalist Uri Geller 1996 in einem seiner Bücher[9]Uri Geller’s Mindpower Kit, New York: Penguin Books, 1996. Der Science-Fiction-Autor Aldous Huxley führte den Mythos in einem Vortrag über menschliche Potentiale 1960 ebenfalls an und berief sich auf die angeblichen Erkenntnisse von Neurowissenschaftlern.
Ein Multi-Mythos?
Möglicherweise kam es allerdings auch zu Verwechslungen mit einer anderen neurowissenschaftlichen Behauptung: 90 % der menschlichen Gehirnzellen seien keine Nervenzellen, sondern Gliazellen, womit erstere nur 10 % des Gehirns ausmachen würden. Gliazellen haben unter anderem eine wichtige stützende und ernährende Funktion im Gehirn[10]https://www.netdoktor.de/anatomie/gehirn/gliazellen/. Allerdings variieren auch die Untersuchungsergebnisse in Hinblick auf deren Anteil stark[11]https://blogs.scientificamerican.com/brainwaves/know-your-neurons-what-is-the-ratio-of-glia-to-neurons-in-the-brain/.
Darum könnte sich auch bei der Annahme eines 10:1-Verhältnisses von Gliazellen zu Nervenzellen um einen Mythos handeln.
Obwohl schon Ende des letzten Jahrtausends angefangen wurde, den 10-Prozent-Mythos als solchen zu benennen und zu widerlegen[12]https://skepticalinquirer.org/1999/03/the-ten-percent-myth/, tauchte er weiterhin in populären Medien auf.
In Filmen wie beispielsweise Der Rasenmähermann (1992), Ohne Limit (2011) oder Lucy (2014) wurde der Mythos sogar auf die Leinwand gebannt. Im Fall von Lucy war sich Regisseur Luc Besson, der ganze neun Jahre an dem Film gearbeitet hatte, tatsächlich sogar bewusst, dass der Mythos falsch ist[13]https://www.researchgate.net/publication/273699018_The_Mythical_Brain_Is_the_Science_of_Movie_Lucy_Wrong. Daran erkennt man, dass es auch im Medium Film oft nicht um wahre Fakten geht, sondern um das Erzählen einer Story, die einem Hollywood-Blockbuster gerecht wird (siehe auch Mythen als Marketing: Die Rolle der Medien).
Mittlerweile existiert eine überwältigende Auswahl an Artikeln, die mit dem bekannten 10-Prozent-Mythos aufräumt. Nichtsdestotrotz dürfte es noch eine ganze Weile dauern, bis der Großteil der Menschheit über diese Unwahrheit aufgeklärt sein wird.
Wie viel Prozent unseres Gehirns wir nutzen
Logischerweise kann unser Gehirn nicht durchgehend Höchstleistungen abliefern.
Eine Neurowissenschaftlerin der britischen Universität Cambridge kommentiert den Mythos wie folgt:
Es ist also tatsächlich anzunehmen, dass die menschliche Gehirnnutzung weit über die vom 10-Prozent-Mythos beschriebene Grenze hinausgeht. Einen aktiven Stoffwechsel besitzt jede einzelne Gehirnzelle ohnehin. Übrigens: Selbst in Bezug auf simplere Aspekte, wie zum Beispiel die Anzahl an Neuronen unseres Gehirn, ist die Wissenschaft sich uneinig[14]https://www.helmholtz.de/newsroom/artikel/wie-viele-nervenzellen-hat-das-gehirn/. Oft ist von 100 Milliarden oder 86 Milliarden Nervenzellen die Rede[15]https://www.dasgehirn.info/aktuell/frage-an-das-gehirn/wieviele-neuronen-hat-das-gehirn. Letztendlich ist diese Angabe wenig aussagekräftig und unwichtig, da sie weder Intelligenz noch Leistung wiederspiegelt.
Interessanter wäre, wenn überhaupt, die Anzahl an Verbindungen der Neuronen untereinander, genannt Synapsen. Da jedes Neuron bis zu 10.000 solcher Verschaltungen zu anderen Neuronen haben kann, ist deren Gesamtzahl im Bereich von vielen Billionen![16]DeWeerdt S. How to map the brain. Nature. 2019 Jul;571(7766):S6-S8. doi: 10.1038/d41586-019-02208-0. PMID: 31341309.
Lesetipps
- „Franzose führt normales Leben mit Mini-Gehirn“
- „Wir nutzen nur 10 Prozent unseres Gehirns – stimmt das wirklich? | Dr. Johannes Wimmer“ (Youtube)
- „Im Kopf herrscht niemals Ruhe“ (Spektrum der Wissenschaft)
Verweise
⇡1 | S. Larivée, J. Baribeau, J.-F. Pflieger: Qui utilise 10 % de son cerveau ? (Who uses 10 % of his brain ?), Revue de psychoéducation, Bd. 37, Nr. 1, S. 117–142 (2008). |
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⇡2 | Feuillet, L., Dufour, H., & Pelletier, J. (2007). Brain of a white-collar worker. Lancet (London, England), 370(9583), 262. https://doi.org/10.1016/S0140-6736(07)61127-1 |
⇡3 | https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k63050400/f9.item.texteImage |
⇡4 | https://www.nytimes.com/2014/08/03/opinion/sunday/three-myths-about-the-brain.html?_r=1 |
⇡5 | https://www.bionity.com/de/lexikon/Funktionelle_Magnetresonanztomographie.html |
⇡6 | https://www.spektrum.de/magazin/im-kopfherrscht-niemals-ruhe/1030086 |
⇡7 | https://www.rnd.de/wissen/schlaf-waehrend-wir-schlafen-ist-unser-gehirn-hochaktiv-TAQLTERW5REHRMJTNQ7N5VQWPI.html |
⇡8 | https://www.schlaganfall-hilfe.de/de/verstehen-vermeiden/was-ist-ein-schlaganfall |
⇡9 | Uri Geller’s Mindpower Kit, New York: Penguin Books, 1996 |
⇡10 | https://www.netdoktor.de/anatomie/gehirn/gliazellen/ |
⇡11 | https://blogs.scientificamerican.com/brainwaves/know-your-neurons-what-is-the-ratio-of-glia-to-neurons-in-the-brain/ |
⇡12 | https://skepticalinquirer.org/1999/03/the-ten-percent-myth/ |
⇡13 | https://www.researchgate.net/publication/273699018_The_Mythical_Brain_Is_the_Science_of_Movie_Lucy_Wrong |
⇡14 | https://www.helmholtz.de/newsroom/artikel/wie-viele-nervenzellen-hat-das-gehirn/ |
⇡15 | https://www.dasgehirn.info/aktuell/frage-an-das-gehirn/wieviele-neuronen-hat-das-gehirn |
⇡16 | DeWeerdt S. How to map the brain. Nature. 2019 Jul;571(7766):S6-S8. doi: 10.1038/d41586-019-02208-0. PMID: 31341309. |