Wissensmythos: Haare wachsen schneller, wenn man sie häufig schneidet
Einer der Klassiker unter den modernen Mythen behauptet, dass Haare durch häufiges Schneiden schneller nachwachsen.
Als haarsträubend stellt sich dieser Irrtum vor allem deshalb dar, weil ihm schon vor über 150 Jahren Wissenschaftler auf der Spur waren. Zwar fanden einige von ihnen auch Argumente zugunsten des Mythos.
Letztendlich hat sich die vermeintliche Weisheit jedoch als unzutreffend herausgestellt. Immerhin: Wenigstens ein Fünkchen Wahrheit ist dran!
Mythos Haarwachstum: Einfach erklärt
Wie schnell Haare wachsen, hängt von verschiedenen Dingen ab: Von der Stelle am Körper, der Ernährung, den Hormonen, den Genen einer Person und sogar von der Jahreszeit. Dabei wachsen Kopfhaare um 1 bis 2 Zentimeter pro Monat. Ob Kopfhaar, Bart oder Körperhaare – wie schnell sie nachwachsen, kann man durch Haarschnitt oder Rasur nicht beeinflussen.
Schneidet man die Spitzen ab, sind sie natürlich kürzer. Aber die Haarwurzel „merkt“ nicht, ob am anderen Ende ein Stück fehlt, da ein Haar keine Nervenbahnen enthält. Es kann darum nicht „auf die Idee kommen“, nach dem Haarschnitt schneller nachzuwachsen.
Aber: Die Haarspitze ist dünner als der restliche Teil des Haars. Deshalb können Haare schon Wochen nach einem Schnitt dichter aussehen, als vor dem Schneiden. Außerdem ist die Farbe des nicht abgeschnittenen Teils oft kräftiger als die abgeschnittenen Spitzen, die oft durch Sonnenlicht ausgeblichen sind. Es kann also so wirken, als ob die Haare schneller nachgewachsen sind.
Bestimmte Nahrung oder auch Ergänzungsmittel (z.B. mit Zink, Eisen oder Koffein) können den Haaren angeblich auch beim Wachsen helfen. Ebenso Pflegeprodukte mit Koffein oder regelmäßige Kopfmassagen. Diese Methoden sind aber nicht wissenschaftlich bewiesen. Die Hersteller von Pflegeprodukten freuen sich aber darüber, wenn Leute daran glauben.
Einziger Vorteil des Haareschneidens: Man verhindert Spliss (Splitterung des Haars), sodass die Haare danach glänzender und weniger brüchig aussehen.
Der haarige Wachstumsirrtum: Physikalisch und biologisch unmöglich
Haare, die neben Finger- und Fußnägeln zu den Hautanhangsgebilden zählen, bestehen zu 90 % aus dem stabilen Protein Keratin. Sie münden in einem in die Haut eingebetteten Haarfollikel. Dort, im nährstoffversorgten Bereich findet das Wachstum statt, im Zuge dessen das Haar mit etwa 1 cm pro Monat[1]Murphrey MB, Agarwal S, Zito PM. Anatomy, Hair. [Updated 2020 Sep 2]. In: StatPearls [Internet]. Treasure Island (FL): StatPearls Publishing; 2020 Jan-. Available from: … Weiterlesen[2]InformedHealth.org [Internet]. Köln, Deutschland: Institute for Quality and Efficiency in Health Care (IQWiG); 2006-. What is the structure of hair and how does it grow? 2019 Aug 29. … Weiterlesen nach außen geschoben wird.
Dies gilt wohlgemerkt für Kopfhaar, während Barthaar, Augenbrauen und Körperhaare langsamer wachsen[3]InformedHealth.org [Internet]. Köln, Deutschland: Institute for Quality and Efficiency in Health Care (IQWiG); 2006-. What is the structure of hair and how does it grow? 2019 Aug 29. … Weiterlesen. Die einzelnen Haarfollikel durchlaufen dabei unabhängig voneinander, also asynchron, eine Wachstums-, Ruhe- und Abstoßungsphase. Nach einer Lebenszeit von einigen Jahren werden sie durch neue Follikel ersetzt. Die äußeren Anteile eines Haars (Haarwurzel, -schaft und -spitze) besitzen aufgrund fehlender Blutgefäße und Nerven keine Verbindung zum Follikel, die einen molekularen oder neurophysiologischen Informationsaustausch ermöglichen würde[4]http://www.medizinfo.de/hautundhaar/haar/haaraufbau.htm. Die Information, dass das Haar geschnitten wurde, erreicht die Haarwurzel als Ort des Wachstums also nicht, sodass gar kein kompensierender Wachstumsschub entstehen kann.
Neben nicht zu beeinflussenden, genetischen Faktoren bzw. der ethnischen Herkunft sind Ernährungsweise, Hormonhaushalt, Jahreszeit, Lebensabschnitt und Körperregion beim Haarwachstum mitbestimmend. Diskutiert werden auch weitere Einflüsse, die aber wahrscheinlich auf die erstgenannten Faktoren zurückzuführen sind: UV-Licht (welches mit der Jahreszeit in Verbindung steht), Stress sowie das Geschlecht, das wiederum mit dem Hormonhaushalt zusammenhängt.
Mittlerweile herrscht in der wissenschaftlichen Literatur Konsens darüber, dass der angebliche Wachstumsschub als Folge des Schneidens ein widerlegter Mythos ist[6]Lynfield YL, Macwilliams P. Shaving and hair growth. J Invest Dermatol. 1970 Sep;55(3):170-2. doi: 10.1111/1523-1747.ep12280667. PMID: 5459955.[7]Chase, H.B. Physical factors which influence the growth of hair. In The Biology of Hair Growth; Montagna, W., Ellis, R.A., Eds.; Academic Press Inc.: New York, NY, USA, 1958; pp. 435–439..
Woher stammt der Mythos?
Wissenschaftliche Hinweise für einen wachstumsfördernden Effekt des Haareschneidens wurden bereits vor über 150 Jahren erbracht – zumindest bei Barthaaren (beispielsweise durch Bertholt[8]Beobachtungen über das quantitative Verhältnis der Nagel-Haarbildung bei Menschen. Arch. Anat. Phys. 156–160 (1850) oder Seymour[9]Seymour, R. J. : The effect of cutting upon the rate of hairgrowth. Amer. J. Physiol. 78, 281 (1926)). Zwar wurden in den nachfolgenden 170 Jahren zahlreiche Untersuchungen angestellt, die keinen derartigen Effekt nachwiesen. Möglicherweise haben sich aber frühzeitig angenommene, falsche Erkenntnisse in der Bevölkerung verbreitet, die nie korrigiert wurden.
Ein scheinbarer Wachstumsschub
Eine wahrscheinliche Erklärung ist, dass es sich bei diesem Mythos um einen Scheineffekt handelt: Haare werden zu den Spitzen hin dünner und teilweise heller, da sie dort von mehr Sonnenlicht erreicht werden und somit schneller ausbleichen. Auch werden Haarspitzen mit der Zeit brüchig und spalten sich bürstenartig auf (Spliss).
Werden diese dünnen, ausgeblichenen oder beschädigten Haarspitzen nun abgeschnitten oder rasiert, sind die verbleibende Haarteile außen dick und besitzen ihre normale, kräftige Farbe. Dies hält einige Wochen lang an, während das Haar weiterwächst. Dadurch ergibt sich ein scheinbarer Wachstumsschub. Es wirkt so, als ob die Haare nach dem Schneiden schnell nachgewachsen seien.
Der Effekt hält solange an, bis die Haare an der Außenseite durch Reibung und Strapazierung erneut dünner werden oder neuer Spliss entsteht.
Denkbar ist natürlich auch, dass der Mythos von einer gewissen Berufsgruppe befeuert wird – um als Grund herzuhalten, möglichst oft die Haare ihrer Kunden schneiden zu können…
Wachstums-Boost bei Pflanzen durch Nachschneiden
Eine alternative Erklärung könnte die Pflanzenbiologie liefern. Bei Pflanzen kann ein Nachschneiden von Zweigen für die vermehrte Neubildung von Trieben an unteren Teilen des Gewächses sorgen[10]https://www.sciencedaily.com/releases/2009/09/090922095705.htm, was beispielsweise bei früchtetragenden Pflanzen eine effektive Methode zur Steigerung des Ertrags ist[11]https://www.bosch-diy.com/de/de/all-about-diy/baeume-schneiden-2. Möglicherweise wurde versucht, diese Erkenntnis fälschlicherweise auf andere Lebewesen, nämlich uns Menschen, zu übertragen.
Lesetipps
- Wissenswertes zu Haaren (inkl. Haar-Mythen): https://www.dha-haareundnaegel.de/aufbau.html
- Dr. Nina Otberg – Die Haarspezialistin: Wachsen Haare besser, wenn ich sie schneide? (Youtube)
- Statistische Daten zu Haar-Wachstumsraten nach ethnischer Herkunft: Loussouarn, G., El Rawadi, C., & Genain, G. (2005). Diversity of hair growth profiles. International Journal of Dermatology 44(s1), 6–9. doi:10.1111/j.1365-4632.2005.02800.x
- Peereboom-Wynia, J.D.R. Effect of various methods of depilation on density of hairgrowth in women with idiopathic hirsutism. Arch. Derm. Forsch. 243, 164–176 (1972). https://doi.org/10.1007/BF00595493
- Chase, H.B. Physical factors which influence the growth of hair. In The Biology of Hair Growth; Montagna, W., Ellis, R.A., Eds.; Academic Press Inc.: New York, NY, USA, 1958; pp. 435–439.
FAQ
Das Haarwachstum variiert von Person zu Person und hängt von verschiedenen Faktoren ab, wie z.B. Alter, Genetik, Jahreszeit und Gesundheitszustand. Im Durchschnitt wachsen Haare etwa 0,3 bis 0,4 Millimeter pro Tag oder etwa 0,8 bis 1,25 Zentimeter pro Monat.
Es gibt keine Möglichkeit, das Haarwachstum zu beschleunigen. Es gibt jedoch einige Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Haare gesund und stark bleiben, wie z.B. eine ausgewogene Ernährung und die Verwendung von pflegenden Haarprodukten.
Nein. Obwohl das Schneiden der Haare das Haarwachstum nicht direkt beeinflusst, kann das Schneiden von Haaren das Haar gesünder aussehen lassen, da splissige Enden entfernt werden.
Nein, das Schneiden der Haare verlangsamt das Haarwachstum nicht. Das Haar wächst von der Haarwurzel aus, weshalb das Schneiden der Haarspitzen keinen Einfluss auf das Wachstum hat. Tatsächlich kann das Schneiden der Haare dazu beitragen, dass das Haar gesünder und kräftiger aussieht.
Verweise
⇡1 | Murphrey MB, Agarwal S, Zito PM. Anatomy, Hair. [Updated 2020 Sep 2]. In: StatPearls [Internet]. Treasure Island (FL): StatPearls Publishing; 2020 Jan-. Available from: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK513312/ |
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⇡2, ⇡3 | InformedHealth.org [Internet]. Köln, Deutschland: Institute for Quality and Efficiency in Health Care (IQWiG); 2006-. What is the structure of hair and how does it grow? 2019 Aug 29. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK546248/ |
⇡4 | http://www.medizinfo.de/hautundhaar/haar/haaraufbau.htm |
⇡5 | Loussouarn, G., El Rawadi, C. and Genain, G. (2005), Diversity of hair growth profiles. International Journal of Dermatology, 44: 6-9. https://doi.org/10.1111/j.1365-4632.2005.02800.x |
⇡6 | Lynfield YL, Macwilliams P. Shaving and hair growth. J Invest Dermatol. 1970 Sep;55(3):170-2. doi: 10.1111/1523-1747.ep12280667. PMID: 5459955. |
⇡7 | Chase, H.B. Physical factors which influence the growth of hair. In The Biology of Hair Growth; Montagna, W., Ellis, R.A., Eds.; Academic Press Inc.: New York, NY, USA, 1958; pp. 435–439. |
⇡8 | Beobachtungen über das quantitative Verhältnis der Nagel-Haarbildung bei Menschen. Arch. Anat. Phys. 156–160 (1850) |
⇡9 | Seymour, R. J. : The effect of cutting upon the rate of hairgrowth. Amer. J. Physiol. 78, 281 (1926) |
⇡10 | https://www.sciencedaily.com/releases/2009/09/090922095705.htm |
⇡11 | https://www.bosch-diy.com/de/de/all-about-diy/baeume-schneiden-2 |